Dirigentin Alondra de la Parra"Beim Dirigieren bin ich eine ganze Welt"
18.01.2023 von Gino Thanner
Rockschlagzeugerin, Kompositionsstudentin und schließlich eine weltweit gefragte Dirigentin. Der Lebensweg der mexikanischen Musikerin Alondra de la Parra ist beeindruckend. Als Frau hinterm Pult und auch als Musikerin in Mexiko musste sie viele Hürden überwinden.
Bildquelle: © Felix Broede
BR-KLASSIK: Die französische Zeitung "Le Monde" schrieb über Sie: "Mit ihr ist die Klassik im 21. Jahrhundert angekommen." Was denken Sie darüber?
Alondra de la Parra: Ich fühle mich geehrt, dass über mich so etwas geschrieben wird. Aber abgesehen davon - das 21. Jahrhundert hätte schon längst in unserer Branche Einzug halten müssen … Mir kommt es oft vor, dass die Klassik-Industrie nicht mal im 20. sondern sogar im 19. Jahrhundert irgendwie steckengeblieben ist. Also freue ich mich, dass zumindest einige von uns klassischen Musikerinnen und Musikern doch mit der Zeit gehen.
BR-KLASSIK: Wer spricht mit Ihnen am ehrlichsten über Ihre musikalische Arbeit?
Alondra de la Parra: Ich selbst bin sehr ehrlich zu mir – denn ich versuche ständig zu schauen: Wo kann ich mich verbessern, was kann ich anders machen? Wir Dirigenten und Dirigentinnen sind ja in einer besonderen Situation – wir sind die einzigen im Musiker-Kollektiv, die so gut wie nie direktes Feedback bekommen. Dabei ist Feedback unheimlich wichtig, um sich selbst zu verbessern und weiterzuentwickeln. Deswegen frage ich in Orchestern, die ich gut kenne und denen ich vertraue, direkt nach Feedback bei den Musikern. "Meint ihr, es hat so gut funktioniert – oder vielleicht doch nicht? Hättet ihr etwas anders machen wollen als ich?" Und ich bin für ehrliche Meinungen wirklich dankbar. Wir als Dirigenten sind ja ständig dabei, dem Orchester Feedback zu geben – das ist unser Job! Zu tief, zu hoch, zu laut, zu leise, zu flach – wir kritisieren am laufenden Band – und kriegen im Normalfall keine direkte Rückmeldung. Und ich finde, es ist auch eine durchaus problematische Seite unseres Berufs. Denn oft wissen wir einfach nicht, was wir falsch gemacht haben – oder auch nicht, was wir richtig gut gemacht haben. Dabei ist es so wichtig, was da zwischen den Musikern und dem Dirigenten auf der Bühne passiert.
Schwanger im Studio für Enjott Schneiders "Herbstmilch"
BR-KLASSIK: Sie dirigieren auch Zeitgenössisches und Filmmusik. Etwa Enjott Schneiders Stück "Herbstmilch". Er hat das für den gleichnamigen Film von Joseph Vilsmaier geschrieben. Was verbinden Sie mit diesem Musikstück?
Alondra de la Parra: Diese Filmmusik haben wir in Wien aufgenommen. Ich erinnere mich sehr gut daran, weil die Aufnahme für mich richtig schwierig war. Denn: Kurz zuvor hatte ich erfahren, dass ich schwanger bin. Es war alles ganz frisch, noch niemand aus dem Orchester wusste davon. Und mir war richtig übel bei der Aufnahme. Oh mein Gott… Ich hätte Dir jetzt gerne eine schöne Geschichte über die Musik erzählt – aber alles woran ich mich erinnere, ist, wie ich mit der Übelkeit gekämpft habe. Hinterher klang die Aufnahme super schön – beeindruckend, denn so habe ich mich definitiv nicht gefühlt.
In Mexiko gibt es wenig Ausbildung für klassische Musik
BR-KLASSIK: Sie fanden über die Plattensammlung Ihres Vaters und Ihres Stiefvaters zur Musik. Und haben dann in Mexiko Komposition studiert. Wo liegen die Unterschiede in der Ausbildung zwischen Mexiko und Europa?
"Ein Kind, das in einem Orchester spielt, ist immer ein Kind, das weiß was Großzügigkeit bedeutet." Alondra de la Parra
Alondra de la Parra: In Mexiko ist es anders als in Europa – es ist nicht so einfach, dort klassische Musik zu studieren. Es gibt nicht viele gute Ausbildungsstätten. Das ist die traurige Wahrheit. Und das versuche ich auch, zu verändern. Als ich klein war, hab ich mit Klavier angefangen, mit 13 hab ich Cello gespielt. Mit 17 wollte ich dann Dirigieren studieren – und habe eben festgestellt, dass es in Mexiko nicht möglich ist. Die beste Alternative, die es gab, war eine Kompositionsschule. Also hab ich gedacht: Gut, dann mache ich das – als Basis fürs Dirigieren, um schon mal Gehörbildung, Harmonielehre, Kontrapunkt, Orchestration usw. zu lernen. Im Nachhinein war es genau die richtige Entscheidung. Denn als ich dann nach New York zum Studieren ging, hat mir diese Basis sehr geholfen.
Die Musik Mexikos soll bekannter werden
BR-KLASSIK: Sie sind jetzt offizielle Kulturbotschafterin Mexikos. Was ist Ihr Ziel dabei?
Bildquelle: © Cicero RodriguesAlondra de la Parra: Mein Ziel ist, dass jedes Kind Zugang zu Musik bekommt. Das ist natürlich ein sehr hohes Ziel – und ich habe nicht die Macht, darüber zu entscheiden. Aber ich versuche immer, wenn ich die Gelegenheit dazu habe, die Entscheider davon zu überzeugen. Denn ein Kind, das in einem Orchester spielt, ist immer ein Kind, das weiß, was Großzügigkeit bedeutet. Es ist gut organisiert, diszipliniert und respektvoll anderen gegenüber. Dieses Kind lernt, dass Kooperieren viel wichtiger als der eigene Erfolg ist – und es lernt noch so viel mehr! Man bekommt in einem Orchester ein ganzes Set an Fähigkeiten beigebracht, die man nirgendwo anders so geballt lernen kann. Es wäre also so wichtig, dass musikalische Ausbildung ein regulärer Teil jeder schulischen Ausbildung wird. Nicht unbedingt, damit die Kinder Profimusiker werden, sondern damit sie zu besseren Menschen werden. Mit diesem Gedanken habe ich mein Programm "Armonia Social" gegründet, das Kindern in vielen Teilen Mexikos Zugang zu Orchestern ermöglicht.
Die mexikanische Musik ist so vielschichtig, sie ist wie ein Kaleidoskop aus verschiedenen Musikrichtungen. Mexiko ist nicht nur ein Land – es ist ein ganzer Planet.
Alondra de la Parra
BR-KLASSIK: Sie planen außerdem viel mexikanische Musik in Ihren Programmen. Oder Sie laden mexikanische Solistinnen und Solisten ein. Welchen besonderen Spirit hat die Musik aus Ihrem Heimatland für Sie?
Alondra de la Parra: Mein Ziel war es schon immer, mexikanische Musik auch außerhalb von Mexiko bekannt zu machen. Denn ich habe schon sehr früh festgestellt, dass diese Musik in der Welt kein Gehör fand. Und das freut mich sehr, dass es sich heute, 20 Jahre später, verändert hat. Und die Musik meines Landes – und auch anderer lateinamerikanischer Länder – um einiges bekannter geworden ist. Und zu Ihrer Frage: Was ist der besonderer Spirit dieser Musik? Genau das ist ja auch mein Punkt! Denn es gibt keinen speziellen Spirit, die mexikanische Musik ist so vielschichtig, sie ist wie ein Kaleidoskop aus verschiedenen Musikrichtungen. Mexiko ist nicht nur ein Land – es ist ein ganzer Planet. Und es ist unmöglich, die mexikanische Kultur nur auf eine Art Bild oder Sound runterzubrechen. Wenn die Leute an Mexiko denken, haben sie meistens nur Sombrero, Mariachi, Tequila und die Strände im Kopf. Aber wir haben so viel mehr zu bieten. Unsere Kultur lebt ja auch von ganz unterschiedlichen Einflüssen. Es gibt den österreichischen Einfluss, den spanischen, die Kultur der Azteken und der Maya – ich kann die Liste noch ewig fortführen. Und jede dieser Kulturen hat ihre eigenen Instrumente, ihre eigenen Tanzrhythmen und Sounds. Es ist also quasi unmöglich ein einziges Label auf die mexikanische Musik zu drücken.
Von der Rockband ans Dirigierpult
BR-KLASSIK: Sie haben Klavier und Cello gespielt, aber auch Schlagzeug in einer Rockband. Spielen Sie noch?
Alondra de la Parra: Nein, ich spiele nicht mehr. Ich hab früher in mehreren Bands gespielt, sieben oder so. Ich würde sie auch nicht als Rockbands bezeichnen, vielleicht eher Progressive Rock. Aber als ich dann mit dem Dirigieren angefangen habe, musste ich alles andere hinter mir lassen – Klavier, Cello, auch das Schlagzeug. Denn Dirigieren ist ein unglaublich fordernder Beruf. Viele wissen es nicht, aber die Dirigiertechnik – wenn man sie richtig lernt – ist ein echtes Handwerk. Und man muss das Dirigieren wie ein Instrument lernen und üben. Viele Dirigenten machen das nicht. Aber man sieht es, wenn jemand die Technik wirklich beherrscht. Also musste ich in dem Moment, als ich mich für das Dirigieren entschieden habe, meine anderen Instrumente aufgeben.
BR-KLASSIK: Hören Sie noch Rockmusik?
Alondra de la Parra: Ach, mein Leben ist so voll mit Musik. Wenn ich mal nicht arbeite, genieße ich am meisten einfach die Stille. Aber ich liebe z.B. Florence and the Machine. Ihre Musik ist so vielschichtig, sie hat ein Gefühl für musikalische Formen, ihres Songs sind toll geschrieben, gut produziert. Sie hat etwas ganz Spezielles – ich mag diese Künstlerin sehr!
Das Geschlecht spielt keine Rolle
Die Musik braucht alles – sowohl die weibliche als auch die männliche Energie.
Alondra de la Parra
BR-KLASSIK: Sie waren die erste Frau am Pult beim Queenslands Symphony Orchestra Australien. In Süddeutschland dirigierten Sie die Bamberger Symphoniker, zuletzt waren Sie bei den Tutzinger Brahmstagen. Als Dirigentin sind Sie weltweit gefragt. Wie sehen Sie dieses Thema: Dirigieren als Frau.
Alondra de la Parra: Wenn ich am Dirigentenpult stehe, dann bin ich eine Frau, ich bin aber auch gleichzeitig ein Mann, ich bin ein Kind, ich bin ein Sonnenuntergang, ich bin ein Berg, ich bin Feuer, Energie, Stärke, Geschwindigkeit, ich bin eine ganze Welt, die die Musiker in mir entdecken können – und ich entdecke eine ganze Welt in ihren Augen. Und währenddessen weiß ich nicht mal mehr meinen eigenen Namen. In diesem Moment werde ich zu Musik – und zu dem, was die Musik von mir braucht. Und die Musik braucht alles – sowohl die weibliche als auch die männliche Energie, auch eine neutrale Energie, denn an allererster Stelle steht, dass wir gemeinsam eine Geschichte durch die Musik erzählen. Der Beruf des Dirigenten ist vielleicht mit dem eines Schauspielers vergleichbar. Wenn eine Schauspielerin ihre Rolle spielt, lässt sie ihren eigenen Namen hinter sich. Du siehst nicht Gwyneth Paltrow eine Rolle spielen. Du siehst den Charakter, den sie darstellt. Für mich passiert beim Dirigieren dasselbe. Also ist es für mich absurd, über Mann oder Frau am Dirigierpult zu sprechen. Wir sind alle Künstler, jeder und jede mit ihren eigenen Geschichten – ihren Lehrern, ihren Eltern, ihren Erfahrungen und Fähigkeiten im Hintergrund – und das hat nichts mit dem Geschlecht zu tun. Wirklich nicht.
BR-KLASSIK: Sehr schön gesagt.
Alondra de la Parra: Wissen Sie, ich hatte 20 Jahre Zeit, mir eine gute Antwort auf diese Frage zu überlegen. Denn alle stellen mir diese Frage. Es ist auch irgendwie witzig, denn in meinem privaten Leben werde ich nie zu meinem Geschlecht befragt. Aber in jedem Interview bekomme ich diese Frage gestellt. Und ich wusste lange nicht, wie ich darauf antworten soll. Bis mir irgendwann klar wurde: Wir vereinen einfach alles in unserer Person, wenn wir auf der Bühne stehen.
BR-KLASSIK: 2023 stehen einige spannende Termine an, zum Beispiel ein zehntägiges Festival in Mexiko, das Sie gegründet haben. Aber neben der Musik, was haben Sie sich vorgenommen für 2023?
Alondra de la Parra: Ich spiele richtig gerne Tennis! Vor kurzem hab ich mein Tagebuch wiedergefunden, das ich mit 15 geführt habe. Und fast auf jeder Seite steht, wie glücklich mich damals Tennisspielen gemacht hat. Und dieses Glücksgefühl – das hab ich heute auch noch, wenn ich Tennis spiele. Ich komme dabei total runter, ich konzentriert mich nur auf den Ball – und das tut richtig gut. Mein Vorsatz für dieses Jahr ist: vielleicht ein bisschen weniger zu machen. Und die Dinge, die ich mache, sorgfältig auszuwählen, mich den Sachen widmen, die mich wirklich erfüllen. Und dazu zählt auf jeden Fall auch, mehr Zeit mit meinen beiden Kindern zu verbringen!
Sendung:"Sweet Spot" am 16. Oktober 2023ab 21:05 Uhr auf BR-KLASSIK